Liebe Leserinnen und Leser,

  • sind Sie manchmal „Zeitlos“ oder
  • gehören Sie auch zu jenen, die „unbedingt in Zukunft Stress vermeiden“ und abbauen wollen und gerne mehr „Zeit für Freunde und Familie“ hätten?

Wenn ja, dann willkommen bei einer Mehrheit von fast 60 % der Bevölkerung. Fällt Ihnen auf, dass Sie diese Ziele kaum verwirklichen können und es Ihnen selten gelingt, „Zeit zu haben“? Es ist schon paradox – wir verwenden immer mehr technische und andere Hilfsmittel, die uns helfen „Zeit zu sparen“ und trotzdem, wir gewinnen keine Zeit, alles wird immer hektischer, kurzatmiger, rastloser. In vielen Industriegesellschaften hat man daher schon den Begriff der „Zeitnot“ eingeführt, der eigentlich aus dem Schachspiel kommt und andeutet, dass man für viele Züge bis zur sogenannten Zeitkontrolle nur noch sehr wenig Zeit auf der Schachuhr zur Verfügung hat.

Das Wort „Zeit“ lässt sich mit so vielen anderen Worten kombinieren: Zeitknappheit, Zeitverlust, Zeitguthaben – all das ist so komplex, dass man schon ein „Zeitmanagement“ benötigt. Wenn Sie Ihre Zeit richtig administrieren, dann können Sie auch Ratgeber dazu lesen, z.B. „Zeit, der Stoff aus dem das Leben ist“ (Stefan Klein) oder „Muße“ (Ulrich Schnabel).

Fastfood, Convenience Food, Verkürzung von Mastzyklen bei Tieren, genmanipulierte Lebensmittel, Social Media, usw. sind alles Maßnahmen, damit wir schneller essen, leben, arbeiten, produzieren können – und dennoch fehlt uns die Zeit.

Der wahre Grund für dieses scheinbare Paradox ist, dass wir uns immer mehr unter „Zeitdruck“ setzen. Alles muss schneller, schneller und noch schneller gehen. Jeden Tag versuchen wir „zu optimieren“ und mit der Verwendung von Hilfsmitteln beschleunigen wir diese Prozesse immer weiter. Aber diese Beschleunigung hilft uns nicht dabei, mehr Zeit zu gewinnen, sondern einfach nur mehr zu erledigen. Der Soziologe Hartmut Rosa schreibt in seinem Buch „Beschleunigung und Entfremdung“ etwas Interessantes zu der Art und Weise wie wir elektronisch und digital kommunizieren: „Zwar lässt sich eine E Mail deutlich schneller schreiben als ein herkömmlicher Brief, aber – so Rosa – ist zu vermuten, dass der Mensch inzwischen 40, 50 oder gar 70 E Mails pro Tag lesen und schreiben kann. Dafür benötigt er aber weitaus mehr Zeit für Kommunikation als vor der Erfindung des Internets.“ Somit beschleunigen wir also die Prozesse um uns herum und auch unser Arbeitspensum.

Nach meiner Auffassung ist es auch so, dass es in einem immer stärkeren Ausmaß durch die Digitalisierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche gelingt, Informationsverarbeitung zu beschleunigen. Wir können schneller reisen, Daten versenden, Daten analysieren (und unser Kühlschrank kann uns eine SMS senden, wenn die Milch ausgeht und wir welche einkaufen sollen), aber was wir nicht beschleunigen können, ist die Leistung unseres Gehirns in Bezug auf die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen.

Wir haben uns so sehr an die immerwährende Hektik und die rastlose Arbeit gewöhnt, dass Nichtstun für viele Menschen schon zu einem Schreckens-Szenario geworden ist. In einer Versuchsanordnung des Psychologen Timothy Wilson von der Universität Virginia haben Wissenschaftler Probanden aller Altersklassen einzeln in einen Raum gesetzt und sie aufgefordert 6 bis 15 Minuten lang still zu sitzen und ihren Gedanken nachzuhängen. Die Mehrheit reagierte mit deutlichen Anzeichen von Unwohlsein. Daraufhin änderten die Forscher die Versuchsanordnung und gaben den Testpersonen die Möglichkeit sich selbst während der 15-minütigen Ruhezeit einen leichten Elektroschock zu verpassen. Das Ergebnis war sehr verblüffend: zwei Drittel aller Männer und ein Viertel aller Frauen verpassten sich mindestens einmal lieber selbst einen Schlag als einfach stillzusitzen. Ein Mann brachte es sogar auf 190 Elektroschocks.

Das Problem mit der immerwährenden Beschleunigung ist, dass die Eindringtiefe und die intellektuelle Auseinandersetzung mit Themen auf der Strecke bleibt. Es siegt die Oberflächlichkeit, wenn wir immer schneller arbeiten. Abstraktes Denken, Muße um bestimmte Themen wirklich zu durchdringen, werden so immer schlechter möglich.

Erste Gegenbewegungen sind allerdings auch schon im Entstehen. Vereine für Zeitverzögerung zum Beispiel sind bereits verschiedentlich gegründet worden. In einigen Ländern gibt es Bemühungen, auch öffentlich kommuniziert die Prozesse zu entschleunigen. Im norwegischen Fernsehen zum Beispiel gab es die längste (oder langatmigste?) Sendung aller Zeiten, eine 134-stündige Übertragung einer Schiffsfahrt mit der Hurtig-Route von Bergen nach Kirkenes. Es gibt auch bereits eine „nationale Feuerholznacht“ sowie eine Sendung über einen Strick-Abend, die 8 Stunden dauerte.

Als Individuum ist es schwer, gegen diese Bewegung anzukämpfen. Sich einfach mal aus der Hektik „abzumelden“ ist gegen den Trend und macht einen schnell zum Sonderling. Es gibt aber einige einfache Tipps und Empfehlungen, wie man mit der Rastlosigkeit umgeht, zum Beispiel:

  • indem man ein gutes Buch liest und zwar auf dem Sofa mit wahlweise einem Tee oder einem Glas Wein und dem Handy in sicherer Entfernung;
  • indem man im Büro nur alle drei bis vier Stunden ein Zeitfenster von vielleicht 15 Minuten einräumt, um E-Mails zu überprüfen, zu lesen und zu beantworten;
  • Sabbaticals und Auszeiten sind bei neuen Arbeitsplätzen zunehmend beliebt;
  • indem man die wachsenden Bewegungen wie Slow Food, Slow Cities und andere Tendenzen wie z.B. Slow Travel, Slow Money oder Slow Living kennenlernt und für sich ausprobiert.

Es muss also nicht sein, dass wir der immerwährenden Beschleunigung unser Tribut zahlen, nehmen Sie sich die Zeit, einmal darüber nachzudenken, wieviel Zeit Sie sich nehmen wollen. Die Zeit gehört zwar niemanden, aber es ist doch „Ihre Zeit“?!

Herzliche Grüße,

Natascha Freund

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Quelle: Der Spiegel 2014