Liebe Leserinnen und Leser,

es ist Sommerzeit und auch Ferienzeit und vielleicht ergibt sich damit auch Zeit für Geschichten zum Selbstlesen, zum Vorlesen oder Vorlesen lassen oder einfach zum Nachdenken.

Nachstehend finden Sie eine Geschichte, die anregt, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten und Dinge, die man nicht ändern kann, anzunehmen:

Fathima, die wunderschöne Tochter des Sultans Achmet, war15 Jahre alt , als ihre ergraute Kinderfrau, die neben ihr auf dem rotsamtenen Diwan saß und feine Spitzen um ein Seidentaschentuch häkelte, ihr eine Geschichte erzählte, die sie nie vergessen sollte: denn es war eine geheimnisvolle Geschichte von unerfüllbaren Wünschen, von Ohnmacht und Hilflosigkeit und von der Weisheit, die darin besteht, Unerreichbares loszulassen. Kurz: Es war eine Geschichte über das Leben.

In alten, grauen Zeiten, lange bevor Achmet Sultan im Morgenland wurde, bekommen seine Vorfahren Mechmet und Leila zu ihrer Hochzeit eine wundervolle Vase geschenkt. Die Vase ist von auserlesener Schönheit. Über einem breiten, goldenen Fuß rankt sie sieh leicht und schlank empor, formt zu beiden Seiten zwei geschwungene Henkel und schließt sich zuletzt in einem vollkommenen Kreis um die kleine Öffnung. Beide Seiten der Vase sind mit Gold/ Blau und Purpurrot bemalt/ aber mit so unterschiedlichen Mustern, dass sie einander ähneln und doch grundverschieden sind. Mit der Vase ist ein Auftrag verbunden: Die Besitzer sollen sie jeden Morgen bei Sonnenaufgang auf den Felsen über dem Fluss stellen, damit sie sich am Tage mit dem Licht und der Wärme füllen und nachts das junge Paar mit ihrem Inhalt erfreuen könne. Einige Jahre führen Mechmet und Leila ein glückliches, Iicht- und wärme erfülltes Leben, dem auch ein Kind entspringt: ihre Tochter Lucia.

Dann/eines Abends, geraten Mechmet und Leila in Streit darüber, wer heute die Vase vom Felsen holen solle. Jeder von beiden behauptet, der andere sei dran/jeder behauptet, er habe Recht und es sei die Schuld des anderen, wenn der Vase nachts etwas widerfahre. Wütend schlafen beide ein. Das zischende Geräusch eines grellen Blitzes und ein furchtbares Donnergrollen weckt sie mitten in der Nacht. Sie wissen beide, was das bedeutet. Als sie ins Dunkel hinaus hasten und zu dem Felsen kommen, auf dem die Vase stand, liegt dort nur noch eine Hälfte. Der Blitz hat das edle Gefäß gespalten. Sosehr sie auch suchen, die andere Hälfte bleibt verschwunden, sie muss hinunter in den Fluss gefallen sein. Aber auch die Suche im Flussbett während der nächsten Tage und Wochen bleibt  vergeblich. Leila weint bitterlich, und Mechmet schweigt mit zusammengepressten Lippen. Sie beginnen sich darüber zu streiten, was mit der übrigen Hälfte geschehen solle. Mechmet findet sie zu nichts mehr nutze und wirft sie eines Tages, als er sich von Leila unbeobachtet glaubt, weg, aber Leila hat es gesehen, sie holt die Vasenhälfte, die sie an Zeiten der Wärme und Liebe erinnert, heimlich zurück und versteckt sie in ihrer Truhe.

Jahrelang spricht niemand mehr von der Vase. Mechmet beginnt ein neues Leben mit viel Arbeit, Leila ist oft still und traurig, und Lucia wächst heran. Kurz vor Lucias siebentem Geburtstag fällt Leila ein, dass sie in der großen, alten Truhe ein wertvolles Goldstück aufbewahrt/und sie beschließt, ihrer Tochter davon etwas Besonderes zum Geburtstag zu kaufen. Zum ersten Mal nach Jahren öffnet sie die Truhe und findet neben dem Goldstück die fast vergessene Vasenhälfte. Lucia hat der Mutter beim Suchen zugeschaut, beginnt nun zu fragen und erfährt die Geschichte der Vase.

Da sie mutig und neugierig ist, läuft sie sogleich zum Fluss, zieht Schuhe und Strümpfe aus, watet ins seichte Wasser und spürt nach wenigen Schritten unter ihren Füßen etwas Hartes. Als sie es vorsichtig ausgräbt, ist es der andere Teil der Vase. Freudig erregt läuft sie damit zu ihrer Mutter. Beim Anblick der verloren geglaubten Hälfte durchläuft Leila ein warmer Schauer des Erinnerns. Geschäftig beginnt sie, sie vom Sand und Schlick des Flusses zu befreien. Lucia spürt die hoffnungsfrohe Aufregung der Mutter. Schließlich hält Leila die beiden Hälften aneinander. Da erst sieht sie, wie verschieden sie voneinander geworden Sind. Die Hälfte, die sieben Jahre im Wasser gelegen hat, zeigt nur noch blasse Blau-, Gold- und Purpurspuren, Kies und Sand haben die Bruchstellen abgeschliffen und manche Kerbe ins Porzellan geschlagen. Da wird Leila voll Trauer gewahr, dass die beiden Hälften nicht mehr zusammenpassen. Sie befiehlt ihrer Dienerin, unverzüglich beide Teile wegzuwerfen. Lucia folgt der Magd und überredet sie, ihr die Hälften, wie sie sagt, »zum Spielen« zu überlassen.

In Wahrheit aber hat Lucia beschlossen, die zerbrochene Vase um jeden Preis wieder ganz zu machen. Freude und Traurigkeit ihrer Mutter haben ihr gezeigt, wie wichtig die Vase für Leila sein muss.

Weil Lucia ihre Mutter über alles  liebt, versucht sie in den kommenden Wochen heimlich, Nacht für Nacht, die Vase zusammenzufügen: Jedoch, was immer Lucia auch verwendet, um die beiden Teile wieder miteinander zu verbinden – Kleber, Kitt, Ton, ja sogar in Honig gelösten Muschelkalk-, am Morgen liegen sie wieder getrennt nebeneinander. Lucia, die sieht, wie ihre Mutter wieder in die alte Traurigkeit verfällt, gibt nicht  auf. Sie schläft kaum noch probiert nachts eine Klebstoffmischung nach der anderen aus und ist fest davon überzeugt, dass es einzig an ihrer Unfähigkeit liegt, dass die Vase nicht zusammenhält. Weil sie nachts arbeitet, schläft sie Oft am Tag und spielt immer seltener mit ihren Freunden.

Eines Tages weckt sie ihr Freund Gülhan um drei Uhr mittags und schimpft: »Mit dir ist ja gar nichts mehr anzufangen, du bist echt langweilig.« Weil er Lucia gern mag, fügt er, mit beiden Händen in seine prallen Taschen greifend, hinzu: »Ich habe dir viele Haselnüsse und Walnüsse mitgebracht. In der letzten Nacht war ein großer Sturm. Ich habe gesehen, wie die Walnussbäume und die Haselnussbäume sich mächtig wehrten und ihre Kronen schüttelten, weil sie ihre Nüsschen nicht loslassen wollten, und ich habe gehört, wie der Sturm heulte: >Lass los, lass los, lass los.< Das war ein gewaltiger Kampf, und der Sturm hat gewonnen. Heute Morgen lagen unendlich viele Nüsse unter den Bäumen, denn sie sind reif, und im nächsten Jahr können wieder neue wachsen. Gib mir zwei Schalen, liebe Lucia, damit ich die Haselnüsse in die eine und die Walnüsse in die andere legen kann.« Während Lucia im Schrankvergeblich nach zwei Schalen sucht, hat Gülhan längst die beiden Hälften der Vase entdeckt und sie mit den Nüssen gefüllt. Als Lucia das sieht, will sie zuerst laut schimpfen, aber dann gefällt ihr die braune Pracht der Waldfrüchte in den kostbaren Gefäßen, und sie holt einen Nussknacker.

»Und wie ging das weiter?« wollte Fathima wissen, als ihre alte Kinderfrau die Geschichte beendet hatte. »Oh«, sagte diese, »Lucia hat in ihrem Leben noch viele Schalen mit Früchten gefüllt, manche mit Brombeeren, andere mit Weintrauben, wieder andere mit Pilzen, mit Eicheln oder mit Sonnenblumenkernen.«

Viel Freude beim Vermehren der gewonnenen Erkenntnisse wünscht

Natascha Freund

Quelle: Spangenberg 1996, S.16-19

Wenn auch Sie den Newsletter bestellen möchten, so senden Sie bitte eine E-Mail an freund(at)copala.at mit dem Betreff “Newsletter bestellen”.