Autor: Dr.in Nanina Freund, LL.M. (Seite 3 von 48)

Reden wir darüber…

Was es mit Erfolgen und dem Teilen derselben auf sich hat, möchte ich Ihnen mit dieser Geschichte zeigen:

An einem schönen Sonntagmorgen erklärte ein Rabbi seiner Frau, er werde diesen Tag mit Golfspielen verbringen.

„Tu das nicht“, protestierte seine Frau besorgt. „Wenn jemand aus der Gemeinde erfährt, dass du den Sabbat nicht geehrt hast, wie es uns die heilige Schrift vorschreibt, verlierst du noch deine Arbeit. Und wie sollen wir dann das Haus abbezahlen?“

„Das erfährt schon keiner“, beschwichtigt der Rabbi. „Ich spiele einfach inkognito. Ich gehe auf einen anderen Platz als sonst, wo mich keiner kennt.“

„Tu das nicht, Liebling! Gott wird dich bestrafen“, warnte seine Frau erneut.

„Es ist der keine große Sünde. Gott wird mir sicher vergeben“, sagte der Rabbi und packte seine Ausrüstung zusammen.

Als er am Ende des Tages wieder nach Hause kam, bemerkte seine Frau sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Der Rabbi erschien ihr wie ein gebrochener Mann.

„Was ist los? Was ist passiert?“, fragte sie ihn.

„Ich hätte auf dich hören sollen“, murmelte der Rabbi. „Du hattest recht. Ich hätte nicht spielen sollen. Gott hat mich für meine Sünde bestraft.“

„Was ist denn passiert? Hast du dich verletzt?“

„Nein, nichts dergleichen“, entgegnete er bedrückt. „Es ist beim sechsten Tee passiert: ich habe ausgeholt, meinen Driver geschwungen, und der Ball flog und flog und landete auf dem Grün und rollte immer weiter bis ins Loch.“

„Was erzählst du da?“, fragte seine Frau verwirrt. „Ich verstehe wirklich nicht viel vom Golf, aber doch so viel, dass du gerade ein Hole-in-one beschrieben hast. Das hat man nicht alle Tage! Das ist eine einmalige Sache. Solltest du dich nicht darüber freuen?“

„Vermutlich“, erwiderte der Rabbi bekümmert. „Aber ich kann es ja niemanden erzählen!“

Es ist wichtig, dass wir unsere Erfolge mit anderen Menschen teilen, dadurch lernen wir nicht nur aus unseren eigenen Erfolgen, sondern auch aus jenen unserer Mitmenschen. Geteilte Freude ist doppelte Freude.

Erfolge sind nicht nur die „großen“, sondern auch Mini- und Makro-Erfolge, wie zum Beispiel, dass ich es heute geschafft habe, pünktlich im Büro zu sein.

Machen wir uns aber auch bewusst, auf welche Art und Weise andere zu unserem Erfolg beigetragen haben. Das stärkt nicht nur die Beziehung zu diesen Menschen; es hilft auch Dankbarkeit zu empfinden.

Quelle: Ben Furman, Zum Glück ist es nicht weit

Empathie

Vor einiger Zeit hörte ich einen spannenden Podcast zum Thema Empathie, den ich Ihnen auch empfehlen möchte (Link am Ende des Beitrags). Es waren die Zeiten des weichen und dann harten Lockdowns, der US-Wahlen und des Terroranschlags in Wien, eine für viele Menschen seelisch belastende Zeit.

In dem Podcast ging es um Empathie – was man darunter versteht, wie sie hilft, was man dazu braucht.

Aber was ist eigentlich Empathie. Viele verstehen unter diesem Begriff das Mitgefühl – aber es ist etwas leicht anderes – nämlich Einfühlen. Sehr deutlich wurde mir, dass das echte Mitfühlen (oder auch Mit-Leiden) viele schwierige Aspekte haben kann. Wer mit den Sorgen eines anderen Menschen so mitfühlt, als erlebe er dieses Gefühl selbst, der gibt viel Kraft und Emotion und das ist nicht gut für jeden, denn man kann von negativen Mit-Gefühlen „überrannt“ werden. Das „Einfühlen“ bezieht sich eher darauf, darauf zu achten, wie es dem Gegenüber geht, ohne die Gefühle zu übernehmen.

Die Forschung unterscheidet die emotionale Empathie (das echte Mitfühlen wie oben beschrieben), die kognitive Empathie (im Wesentlichen auf der Verstehensebene, ohne in die andere Person hineinzugehen) und die „compassionate“ (mit/einfühlende Empathie), also jene, bei der man versteht, was im Gegenüber vor sich geht, ohne selbst davon emotional mitgerissen zu werden.

Ich lerne, das folgende Merkmale einen empathischen Menschen ausmachen:

  • ein besseres Sensorium als andere Menschen
  • trösten, zuhören, helfen können
  • die Fähigkeit, einem anderen zuzuhören, ohne gleich mit eigenen Meinungen, Tipps und Reaktionen zu kommen

Empathie ist angeboren. 98% der Menschen könnten das, aber die Ausformung ist unterschiedlich. Die Fähigkeit zur Empathie in der Gesellschaft geht im Übrigen zurück, aber man kann Empathie auch lernen und verbessern. Empathie ist in höheren Einkommensschichten übrigens schlechter ausgeprägt als in anderen Schichten.

Und wie trainiert man Empathie?

  • Aktiv zuhören und nicht gleich antworten. Unvoreingenommene Aufmerksamkeit dem Gegenüber schenken.
  • Nicht unterbrechen, sondern dem Anderen das Gefühl des Gehört-Werdens vermitteln.
  • Gesichtsreaktionen des Gegenübers verfolgen.

Der wahre Kern von Empathie ist Neugierde, d.h. man sollte wirklich nachfragen, wie es dem Menschen geht. Laut dem Podcast sind empathische Menschen

  • glücklicher
  • gesündere und haben bessere Beziehungen
  • spüren Vertrauen

Empathie fördert Empathie im Gegenüber und macht innovativer sowie hilft bei der Konfliktvermeidung. Empathie hilft bei der Selbstregulation, weil man Handlungen anderer besser einschätzen kann. Das macht einen dann weniger ängstlich/besorgt. Kindern empathischer Eltern geht es psychisch und physisch besser, aber interessanterweise zeigen solche Eltern höhere Entzündungswerte, weil sie Sorgen und Ängste übernehmen.

Empathie ist ein wichtiges Element in unserer Gesellschaft, gerade in diesen Zeiten. Zeigen wir unseren Mitmenschen Empathie, vor allem jenen, die sie brauchen, damit sie sich verstanden und gehört fühlen.

 

Quelle zum Nachhören:

https://www.derstandard.at/story/2000121607189/podcast-warum-empathie-gluecklich-macht-und-wann-sie-ungesund-wird

 

Irvin D. Yalom

Heute möchte ich Ihnen eine wahre Geschichte anbieten, die mich sehr berührt hat:

Kennen Sie vielleicht eines oder mehrere der folgenden Werke?

  • Und Nietzsche weinte
  • Die rote Couch
  • Liebe, Hoffnung, Psychotherapie
  • Wie man wird, was man ist: Memoiren eines Psychotherapeuten

Es ist eine kleine Auswahl der Bücher von Irvin D. Yalom, einem der Mitbegründer der existentiellen Psychotherapie. Vor kurzem ist sein neuestes Buch erschienen – es heißt „Unzertrennlich: Über den Tod und das Leben“. So weit, so gut. Dass Psychotherapeuten auch im hohen Alter (Yalom wird im Juni 90 Jahre alt) Bücher schreiben, ist nichts Außergewöhnliches und auch die Auseinandersetzung mit dem Tod ist ein wichtiges und häufiges Thema in diesem Bereich.

Was das Buch so berührend und reizvoll-ungewöhnlich macht ist, dass er es mit seiner Frau gemeinsam geschrieben hat und sie dieses Projekt gemeinsam begonnen haben, als beide wussten, dass sie sterben wird, bevor das Werk vollendet sein wird. So kam es dann auch und Yalom musste oder durfte, je nachdem wie man es sehen mag, das Buch alleine zu Ende schreiben.

Seine Frau Marilyn, eine hoch angesehene Wissenschaftlerin in Bereich der Geschlechterforschung, schlug ihrem Mann nach fast 65 Jahren Ehe vor, dieses Experiment – wissend um ihre Krankheit – zu wagen, abwechselnd ein Kapitel zu schreiben über das Zusammensein und auch das nahende Ende des gemeinsamen Weges. Entstanden ist ein Buch mit Überlegungen eines Paares, das über 65 Jahre verheiratet ist / war und Einblick gibt in die Denkweisen von zwei Menschen, die sich darauf vorbereiten, dass der Tod sie scheidet. Beschrieben werden die Gedanken und Gefühle, die jeder zunächst in den eigenen Kapiteln ausdrückt mit dem Fokus auf das, was sie bewegt – Marilyn mit den Gedanken bei Therapien und den Weg in den Tod durch begleiteten Suizid; Irvin in Überlegungen zu seiner Kraft, seine Frau vom Sterben abzuhalten, aber auch mit kritischen Gedanken zu seiner Arbeit, weil er zum ersten Mal in der Trauer das empfindet, was seine Klienten z.B. in der Gruppentherapie von Todkranken empfinden, die er betreut, ohne zu wissen, wie tief diese Empfindungen sind, wenn sie einen selbst betreffen.

Als seine Frau im Herbst 2019 stirbt, setzt Yalom das Schreiben fort und vollendet das Buch. In der Buchbesprechung im Spiegel (Nr. 19/2021) gibt es dafür ein besonders schönes Schlusswort: „Aus seiner jahrzehntelangen Arbeit weiß er, dass ein Leben, in dem man viele Lebenswünsche verwirklichen konnte, hilft, dem Tod friedlicher zu begegnen. Er weiß, dass eine gute Ehe dem Partner, der zurückbleibt, das Loslassen einfacher macht. Trotz alledem träumt Irvin Yalom davon, in einem Sarg mit seiner Frau Marilyn zu liegen.“

Wenn ich das lese, dann denke ich an manche Paare, die ich in meiner Praxis begleiten darf und die den gemeinsamen Weg suchen, um ihn zu gehen. Und ich glaube, in der Realisierung der Lebenswünsche in Gesundheit, Liebe und Harmonie liegt einer der Schlüssel für eine glückliche gemeinsame Zeit im Alter.

„Bildschirmmenschen oder soziale Zombies?“

In allen zwischenmenschlichen Beziehungen, egal ob in Familie, Beruf oder Partnerschaft ist Kommunikation das Öl, das Schmiermittel der Verständigung. Ohne Kommunikation kommen wir als Menschen und Gesellschaft nicht aus. Kommunikation verändert sich – einerseits evolutionär, auch durch neue Techniken. Das letzte Corona-Jahr hat aber viel mehr in der Kommunikation verändert, quasi revolutionär. Wie wir anderen begegnen – mit Abstand, teilweise Abgrenzung und Angst ist ein Ergebnis der Umstände. Daher hat mich ein Interview mit Professor Schulz von Thun über die kommunikativen Effekte der Pandemie angesprochen, das Ende April 2021 im Spiegel erschienen ist.

Schulz von Thun ist Kommunikationswissenschaftler und hat das Vier-Ohren-Modell entwickelt. Es geht dabei um die vier Seiten einer Nachricht: Wenn ich etwas sage, dann ist das nie nur (1) eine Information, ich zeige mehr, nämlich: (2) was ich von meinem Gegenüber halte, (3) in welcher Beziehung ich zu ihm stehe und (4) für was ich appellieren möchte.

Das Interview adressierte die Frage wie die aktuelle Pandemie das Sprechen, das Kommunizieren und die Begegnung von Menschen verändert hat, weil es eine Pandemie ist, in der Sprachkontakt reduziert wurde, weil sich Menschen viel weniger begegnen. Und durch die eingeschränkten Bewegungsradien gibt es auch weniger berichtenswerte Ereignisse aus dem eigenen Leben, es gibt vielleicht weniger „Spannendes“ zu erzählen.

Schulz von Thun erläutert, dass wir zu „Bildschirmmenschen“ geworden sind, die „von morgens bis abends in Calls sitzen, die sind abends nicht mehr ansprechbar, weil sie so erledigt sind.“ Er bezeichnet diese Bildschirmkommunikation als „exzellente Notlösung, aber das zwischenmenschliche Leben mit echtem Kontakt und Berührung verkümmert“. Es ist auch die Gewöhnung, die neue Normalität. Wer kann sich schon vorstellen, in Menschengruppen zu sein, sei es auf einer privaten Party, einem Konzert, oder im Fußballstadion. „Alle zusammen, eng an eng, nicht wissen, wer geimpft ist und wer nicht, das kann von lähmender Verunsicherung begleitet sein.“ Schulz von Thun folgert, dass uns die Pandemie die Unbekümmertheit genommen hat, dass es uns schwerfällt, spontan und locker zu sein. Vorsicht und Zurückhaltung bestimmen unser Tun. Er meint aber auch, dass diese zeitweise verloren gegangene Spontanität zurückkehren wird und vergleicht das mit Menschen, „die ein paar Jahre im Gefängnis waren“. Nach einer Eingewöhnung werden alte Reaktions- und Kommunikationsmuster wieder aktiv, es wurde nichts verlernt.

Für Kommunikation wichtig zu verstehen ist, dass was wir 2020/21 erleben sowohl ein gemeinsames, ein Kollektivschicksal ist, weil eine gemeinsame Betroffenheit entsteht. „Gleichzeitig ist sie ein hochindividuelles Schicksal, jeder Mensch erlebt diese Krise anders.“  Das führt auch zu Polarisierungen. Wir erleben dies im Diskurs zwischen Menschen, die den Kurs der Einschränkungen und Vorsicht stützen und den „Corona-Leugner“, diese Gruppen geraten miteinander in Konflikt.

Schulz von Thun betont einen wichtigen Punkt der Vereinsamung „Durch Trennungen, ob gewollt oder durch Kontaktbeschränkungen, entfällt das gesamtgesellschaftliche Wir. Der Mensch ist ein Beziehungswesen, er braucht das Wir – das Ich blüht auf im Wir. Die Beschränkungen führen dazu, dass dieses Wir reduziert ist, sterilisiert, standardisiert. Das kann eine sehr verstörende Erfahrung sein.“ Dieser Teil hat mich besonders angesprochen, denn wer hat nicht die Erfahrung gemacht, andere Menschen nicht sehen zu dürfen, eine Reise nicht machen zu können, den Abend im Sportverein nicht erleben zu dürfen. Hier geht eine wichtige Komponente verloren, und das betrifft uns alle, ganz stark auch den Sektor der Kinder, Jugendlichen und der Bildung.

Ein weiterer Punkt ist mir aufgefallen: was ist, wenn die Pandemie kein definiertes Ende hat, sondern wir lange mit einer gewissen Form von Schutzmaßnahmen leben müssen? Schulz von Thun hält das für „uns als Beziehungswesen schrecklich. Manch einer und manch eine wird zermürben und depressiv werden. Und es wird die Menschen geben, die erfinderisch werden. Die lernen, für sich und ihre Lieben unter den gegebenen Bedingungen lebensfroh zu bleiben.“ Dies bezeichnet er als Selbstfürsorglichkeitsfindigkeit – ein kompliziertes Wort.

Er zieht auch Vergleiche zu Aufzeichnungen von Menschen aus der Zeit der Spanischen Grippe und erwähnt, dass diese weniger emotional waren, sondern mehr „schicksalsergeben“. Heute ist das anders, aber weil es früher so war, ist seine Schlussfolgerung: „Das ermöglichte damals vielleicht eine größere Gelassenheit im Ertragen. Für viele von uns heute ist unser diesseitiges Leben unser Ein und Alles: Es ist zur letzten Gelegenheit geworden, und was wir hier verpassen, ist unwiederbringlich verloren. (….) Vielleicht sind wir deswegen heute aufgebrachter, alarmierter, und tun uns schwerer mit der Gelassenheit und der Schicksalsergebenheit – die wir brauchen, wenn wir die Pandemie nicht dauerhaft in den Griff kriegen sollten.“

Diese These fand ich besonders interessant. Die Situation nicht nur aus dem Hier und Jetzt zu erleben, mit der Kritik an dem, was wir verpassen, sondern in einem größeren Bild, in längeren Zeitläufen zu sehen. Das finde ich, ist ein wertvoller Hinweis, der uns trotz aller Widrigkeiten des Alltags Optimismus spüren lässt. Gleichzeitig wird klar: die Kommunikation, das Verhalten hat sich verändert, und manches davon wird bleiben. Hoffen wir, dass es nicht der Verlust des „Wir“ ist, den wir eines Tages bedauern müssen.

Die Kindheit im Gepäck

Sie wissen vielleicht, dass ich den Titel „Die Kindheit im Gepäck“ schon einmal verwendet habe. Egal wie alt wir sind und in welcher Situation – Kinder bleiben wir. Und auch wenn wir groß und erwachsen sind, oft haben wir noch unsere Eltern und mit diesen im Laufe der Jahre auch so manchen Kampf ausgefochten und so manches vielleicht noch nicht bereinigt. Wie soll man damit als Erwachsener umgehen?

Hans Jürgen Wirth, ein Psychoanalytiker, hat dazu im Spiegel in dem Artikel „Warum man seinen Eltern nicht vorschnell verzeihen sollte“ einige interessante Aussagen getätigt.

Es geht in den Beziehungen Eltern-Kind oft um Erziehung, Bestrafung und Verzeihen. Wie wirkt dies nach, wenn die Kinder „groß“ sind? Was verändert sich oder kehrt sich um? Erwachsene Kinder können besser nachdenken und bewerten, ob ihre Eltern zu ihnen angemessen, fair und liebevoll oder streng und regulierend waren. Was, wenn es körperliche oder seelische Gewalt gab, sogar Missbrauch. Muss oder soll man das später verzeihen?

Wirth schreibt: „Schuldgefühle, die aus verdrängten Hass- und Rachegefühlen resultieren, die Hoffnung, dass einem Gerechtigkeit widerfahren könne, und die illusionäre Sehnsucht, doch noch die schmerzlich vermisste elterliche Liebe zu erhalten, stehen einer offenen Auseinandersetzung mit den Eltern oft im Weg.“

Das stimmt aus meiner Erfahrung. Auch als „erwachsendes Kind“ versucht man oft den Weg der Hinwendung zu den Eltern, um das nicht erfüllte Entwicklungsbedürfnis der Kindheit zu vollenden – und bekommt es doch nicht. Solche Fälle erlebe ich oft in meiner eigenen Beratungspraxis.

Das elterliche Verhalten wird oft entschuldigt, „sie konnten ja nicht anders“. Aber auch hier gilt, dass man sich damit selbst ein Stück weit täuscht, so zu sagen „in die Tasche lügt“. So sagt Wirth: „Denn vor jedem Verzeihen muss es eine Phase der Auseinandersetzung geben, in der das Kind das subjektiv erlittene Unrecht anprangert, sein Leiden artikuliert und die gesamte Palette seiner damit verbundenen Gefühle gegenüber den Eltern ausspricht und ausdrückt.“

Wenn Sie als „Kind“ im Erwachsenenalter auf diesen Prozess verzichten, ersparen Sie Ihren Eltern die Kritik und Auseinandersetzung und sich selbst die Heilung, ein doppelter Verzicht. Verzeihen ist grundsätzlich nichts Schlechtes, aber wer verzeiht, ohne den reinigenden Prozess der Auseinandersetzung zu gehen, landet eher in der oberflächlichen Entschuldigung. Dadurch bleibt der Weg zu einer neuen Ebene der Kommunikation, des Verständnisses und auch vielleicht eine neue Sichtweise auf diesen Menschen versperrt.

Und so kann ich mich den Worten von Wirth nur anschließen: „Der Prozess gelingt, wenn sich zwei Parteien auf eine tiefgreifende Wandlung einlassen und die Bereitschaft zeigen, ihrem Leben eine ganz neue Ausrichtung geben zu wollen. Die Fähigkeit zu verzeihen ist für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen unverzichtbar.“

Nicht jedem steht der Weg offen und nicht jedem ist es gegeben, mit den Eltern diesen Weg zu gehen, bewusst zu riskieren, das Narben aufbrechen und Verletzungen wieder hervorkommen. Manche Menschen haben bis ins Alter noch sehr dominante Eltern, die auch dann noch den Taktstock in der Familie schwingen. Hier kann der Rat Dritter helfen, wie von FamilienberaterInnen oder -therapeutInnen.

Wenn Sie es versuchen, dann lassen Sie sich vielleicht von diesem Bild leiten: „Es geht darum, aus der heutigen Distanz eine neue Einstellung zu den Ereignissen zu entwickeln. Kind und Eltern sind sich im Moment des Verzeihens einig, dass das Vergangene war, wie es war, dass es aber die zukünftigen Beziehungen nicht mehr belasten soll.“

 

Quelle: https://www.spiegel.de/familie/konflikte-mit-den-eltern-wer-zu-schnell-verzeiht-der-taeuscht-sich-selbst-a-00000000-0002-0001-0000-000173732145; abgerufen am 12.04.2021

 

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